Problem der zeitlichen Verortung:
Wenn davon auszugehen ist, dass die Beschriftung der Aufnahmen korrekt ist, sie also aus dem Jahre 1955 stammen und sowohl den Staatsvertrag als auch die Alte Donau zeigen, ergeben sich einige Fragen, die die chronologische Abfolge der Ereignisse betreffen: Die erste Sequenz, die die Wagenkolonne mit Fähnchen sowie die jubelnde Menschenmenge zeigt, scheint auf jeden Fall ein „offizielles“ Ereignis zu sein; es müsste wohl die Sequenz sein, auf die im Titel mit „Staatsvertrag“ hingewiesen wird. Als mögliche Daten kommen dafür die Botschafterkonferenz von 2. bis 12. Mai, die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai oder das in Kraft treten desselben am 27. Juli 1955 in Frage.
Die zweite Sequenz zeigt die Baustelle am Opernplatz; diese muss auf jeden Fall bis spätestens Oktober 1955 aufgenommen worden sein, da die Opernpassage bereits am 4. November unter großem öffentlichen Interesse – mit der ersten Rolltreppe in Wien – fertiggestellt wurde[1]; außerdem eröffnete die Staatsoper am 5. November mit den Klängen von Beethovens „Fidelio“ wieder ihre Pforten.[2],[3]
Bei dem SP-Aufmarsch in der dritten Sequenz würde man möglicherweise zunächst an den 1. Mai, den Tag der Arbeit denken, wahrscheinlicher ist jedoch eventuell der SPÖ-Parteitag am 9. November 1955; wenn es sich aber doch um einen Aufmarsch zum 1. Mai handeln sollte, dann handelt es sich eher um den im Jahr 1956. Für den November spricht die Tatsache, dass im Hintergrund immer wieder entlaubte Bäume zu sehen sind; andererseits spräche für den Tag der Arbeit 1956 die teilweise doch eher luftig gekleideten TeilnehmerInnen des Umzugs.
Für beide Daten und in jedem Fall gegen den 1. Mai 1955 sprechen zwei Fakten: einerseits würde es einfach in die chronologische Abfolge der Aufnahmen passen. Andererseits ist hier außerdem die Nachbildung eines Fernsehers mit einer leider nicht identifizierbaren Aufschrift zu sehen; das passt insofern zu meiner Theorie, als dass es erst seit dem 1. August 1955 österreichisches Fernsehen gab, vorerst nur als Versuchsprogramm und erst später, ab dem 1.1.1958, im regulären Betrieb, was die Vermutung nahelegt, dass der Aufmarsch in jedem Fall nach dem August 1955 stattfand. Dass ein Fernseher bei einer Veranstaltung der SozialdemokratInnen präsentiert wurde, ist nicht wirklich erstaunlich, bedenkt man, dass diese schon früh das Potential des neuen Mediums erkannten – im Gegensatz zum Beispiel zu Leopold Figl, der dem „Manderl-Radio“ keine weite Verbreitung prophezeite[4]. Gemäß dem allseits beliebten Proporzsystem wurde auf Grund eines „schwarzen“ Hörfunkdirektors ein „roter“ Fernsehchef installiert[5].
Das Banner mit der Aufschrift „Die USIA Betriebe dem ganzen Volke“ erschien mir am November 1955 zunächst jedoch anachronistisch; mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai und dem Abzug der letzten sowjetischen Soldaten am 19. September waren die USIA-Betriebe wieder unter österreichischer Verwaltung. Aber über die weitere Vorgehensweise bezüglich dieser Betriebe spalteten sich schon früh die Geister bzw. die Koalitionspartner[6]; die SPÖ machte sich für eine verstaatlichte Industrie stark, während die ÖVP auf weitgehende Privatisierung pochte; anschaulich dargestellt anhand der Meinung eines „Mannes auf der Straße“: „Staatsvertrag, schön und gut, aber was kommt dann? Sehen Sie, was geschieht zum Beispiel mit den Usia-Betrieben? Die Volkspartei will nicht, daß sie verstaatlicht werden. Ich werde das Gefühl nicht los, daß da schon wieder ein großer Schacher im Gange ist. Wer Beziehungen hat, ganz große natürlich, kriegt ein Fabrikerl, eventuell noch ein Fabrikerl und noch ein Fabrikerl. Das Nehmen wird ja bei der Volkspartei ganz groß geschrieben. Dort heißt es Privatinitiative. Aber was hat die Privatinitiative geleistet, 1945 und die Jahre nachher? Nein, die Usia-Betriebe dürfen nicht dem Profit dienen: sie sollen sauber und ordentlich verwaltet werden und ihr Ertrag soll der Gesamtheit zugute kommen.“[7]
Im Wahlkampf für die am 13. Mai 1956 stattfindenden Neuwahlen war die Auseinandersetzung um die Zukunft der USIA-Betriebe eines der wichtigsten Themen[8]. Für die vierte und fünfte Sequenz lässt sich leider kein genaues Datum festlegen; dass teilweise die Damen der feiernden und spazierenden Gesellschaft mit kurzärmeligen Kleidern zu sehen und die Bootsinsassen augenscheinlich barfuß sind, lässt auf ein warmes Wetter schließen. Dies würde wiederum nahelegen, dass die Aufnahme in der warmen Jahreszeit, also möglicherweise im Frühling, gemacht wurde. Dann würde für den oben genannten Umzug der 1. Mai 1956 passen.
Auch wenn es mir leider nicht Hundertprozentig möglich war, für jede der Sequenzen Ort und Zeit zu bestimmen, was jedoch unter anderem an der leider nicht sehr guten Qualität des vorliegenden Materials liegt, konnte ich doch in einigen Fällen selbige bestimmen bzw. eingrenzen; so konnte ich verifizieren, dass die erste Sequenz beim Belvedere bzw. der Prinz-Eugen-Straße gefilmt wurde; und auch die Orte der zweiten Sequenz, die Baustelle am Opernplatz, sowie der vierten, die Gustav-Adolf-Kirche im 6. Bezirk konnten eruiert werden. Wo der SP-Aufmarsch gefilmt wurde, kann auf Grund der Aufnahmen nur vermutet werden; jedoch liegt Währinger Straße durchaus im Bereich des Möglichen. Bei den Aufnahmen am Wasser war es mir jedoch nicht vergönnt einen Anhaltspunkt für eine weitere Lokalisierung zu finden, somit muss ich mich wohl mit der Beschriftung der Filmrolle zufrieden geben und davon ausgehen, dass sie von der Alten Donau stammen. Die zeitliche Fixierung des Dargestellten ist leider nicht so eindeutig möglich, wie es bei der räumlichen zumindest teilweise der Fall ist; mit Sicherheit lässt sich eigentlich nur sagen, dass zumindest ein Teil der Aufnahmen vor der Eröffnung der Opernpassage gefilmt wurde; der Rest der Annahmen beruht auf Indizien. Mathias Klingersberger
[1] Vgl.: www.opernpassage.co.at/wordpress, zuletzt abgerufen am 07.10. 2012, 21:10 Uhr, sowie https://www.wien.gv.at/rk/historisch/1955/november.html, zuletzt abgerufen am 07.101 2012, 21:20 Uhr
[2] Hugo Portisch, Österreich II. Der lange Weg zur Freiheit, Wien 1986, S. 530f
[3] Vgl. dazu: Hannes Leidinger, Verena Moritz, Karin Moser (Hg.), Österreich Box 4 1945-1955. Der Weg zum Staatsvertrag, Die Staatsoper wird eröffnet. Austria Wochenschau Nr. 46/1955, Wien 2010
[4] Portisch, Der lange Weg zur Freiheit, S. 514
[5] Portisch, Der lange Weg zur Freiheit, S. 515
[6] Vgl. dazu: Leidinger, Moritz, Moser (Hg.), Österreich Box 4, Beginn der Botschafterkonferenz. Fox Tönende Wochenschau Nr.19/1955
[7] Anonym, Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs, Extraausgabe zur Unterzeichnung des Staatsvertrags , Wien, 15. Mai 1955, S. 4
[8] Vgl. dazu: Hugo Portisch, Österreich II. Jahre des Aufbruchs, Jahre des Umbruchs, Wien 1996, S. 14, 16f
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