Der knapp 4 Minuten und 44 Sekunden lange Amateurfilm aus dem Bestand des Österreichischen Filmmuseums, besteht aus 44 einzelnen Einstellungen, jeweils selten länger als 10 Sekunden in ihrer Dauer. Die große stilistische Besonderheit des Films liegt in seiner offensichtlichen Einteilung in zwei sehr unterschiedliche inhaltliche Segmente, wobei das erste einen Familienbesuch in der Wohnung der Großmutter schildert, während das zweite Segment Szenen von der „Internationalen Automobilausstellung“ zeigt, sowohl direkt aus den Hallen des Messegeländes, als auch vom Treiben der Menschen außerhalb, im Gespräch und zwischen Würstelbuden und anderen Ständen.
Das erste Segment wird von Halbtotalen und halbnahen Einstellungen dominiert. Die Kamera ist unbewegt, hat abgesehen von der vorrangigen Normalsicht teilweise eine leichte Aufsicht wenn die Personen am Tisch sitzen, was auf den Einsatz eines einfachen, nicht verstellbaren Statives schließen lässt.
Besonders auffällig ist in diesem Teil des Filmes das gestellte Handeln für die Kamera und ein Bewusstsein für ihre Präsenz, welches leidlich versucht wird zu unterdrücken, in häufigen Blicken in die Linse, gerade durch das jüngste Mitglied der Familie, jedoch umso deutlicher ersichtlich wird. Es wird offensichtlich versucht eine scheinbare dokumentarische Qualität zu erzeugen und im Verlaufe des Besuches zu wahren. Der Anschein der Normalität, eines Bildes wie es „hier immer zugeht“. Richard Chalfen stellt ein generelles Muster in Struktur und Inhalt von Amateurfilmen fest, welche diese Herangehensweise in der Abbildung des familiären Lebens beschreibt.
„One pattern is that we generally do not find unfamiliar people or even disliked family members central to the image. Home moviemakers prefer to record and celebrate births rather than deaths, the early years of life rather than the last year, weddings rather than divorces […] and so on. The home-movie pattern has been much more consistent through time than we would discover for feature films.” (1)
Daraus wird eine gewisse generelle inszenierte Weltanschauung in Home Movies ersichtlich. Die Filme bilden selten wirkliche Lebensrealitäten ab, viel mehr idealisierte, kulturelle Idealbilder, wie das Leben sein sollte. Durch Aussparung von Ereignissen, der sorgfältigen Auswahl dessen was gezeigt werden soll, kommt es immer zu einer Narrativierung und Inszenierung der eigenen Biografie. Amateurfilme sind also keine unverfälschten, die Realität per se abbildende Dokumente, sondern hochgradig symbolisch aufgeladen.
„We must not assume that people look at everyday life, or at their environment, in exactly the same ways that they look through their cameras when they produce home movies. […] Home-movie content, however, reveals a carefully constructed and orchestrated view of relatively happy and successful approach to life.” (2)
Im folgenden zweiten Segment überwiegen zunächst weite Einstellungen und Totalen. Die Aufnahmen verlagern sich zunehmend nach Außen, bilden die Menschenmassen auf der Messe, die Ausstellungsstücke und das Treiben auf dem Gelände ab. Es beginnt mit den ersten Kamerabewegungen des Filmes, zwei Schwenks, einmal von links nach rechts, einmal genau entgegengesetzt durch die volle Messehalle. Darauf folgen vermehrt Nahaufnahmen, von denen es im ersten Segment nur eine, und deshalb sehr auffällige, gab (ein Close-Up, auf die strickenden Hände der Großmutter). Der Filmemacher zeigt das Durcheinander der Füße im Schnee, matschige Pfützen, fliegende Möwen und endet auch mit Nahaufnahmen von Gänsen und Schwänen.
Diese Nahaufnahmen lassen einen gewissen artistischen Anspruch erkennen, ein deutliches Experimentieren und Spiel mit dem Medium, welches über das bloße dokumentieren des Ereignisses „Automobilmesse“ hinausgeht.
Die Einteilung des Filmes in zwei, nicht nur inhaltlich sondern auch stilistisch durchaus unterschiedliche Teile, ist auch insofern interessant, als dass sie die zeitliche Ebene des Filmes sehr schwer deutbar macht. Es ist nicht klar ersichtlich, ob eine chronologische Einheit der beiden Sequenzen gegeben ist und es lässt sich lediglich vermuten ob beide Ereignisse in zeitlicher Abfolge stattfanden, also ein Treffen mit der Großmutter, welches in einen Besuch auf der Automobilausstellung mündet. Dagegen spricht, dass keiner der Personen aus dem ersten Teil des Filmes, im Zweiten sichtbar auftritt. Der dokumentarische Aspekt das normale Familienleben festzuhalten, und damit einhergehend eine Fokussierung auf die Mitglieder dieser, fehlt in den Bildern der Ausstellung. Sie weichen Momentaufnahmen der Massenveranstaltung, den anonymen Menschengruppen, dem Schnee und den Buden. Es scheint im zweiten Segment eher um das Festhalten einer Stimmung und besonderen Atmosphäre zu gehen. Es gibt wenig Material direkt aus den Hallen, wenige abgefilmte konkrete Automodelle oder ähnliches, stattdessen überwiegt das Drumherum der Veranstaltung.
Ein weiteres auffällig aus Ort und Zeit fallendes Element, bildet der „phantom ride“ zu Beginn des Filmes. Vermutlich aus einem Auto oder Zug gefilmt, zieht ein Bahnhof voller Schienen und Waggons an der Kamera vorbei. Im Hintergrund Wohnhäuser und weit hinter diesen, die Umrisse einer imposanten Kirche mit zwei Türmen und einem kleineren dahinter auf dem Dach. Es fällt schwer diese kurze Sequenz zu verorten. Die Votivkirche ist die einzige Kirche, die dem Gebäude im Film architektonisch ähnelt, jedoch wirkt dieses weitaus massiver, ähnlich dem Kölner Dom in Deutschland, was die Eröffnungsmomente des Filmes sowohl räumlich als auch zeitlich, deutlich von seinem Rest abgrenzen würde und die Frage nach einem intendierten Zusammenhang in der Abbildung dieser speziellen Ereignisse auf einer Filmrolle, umso schwieriger und spekulativer macht.
Das raum-zeitlich heterogen organisierte Material des Amateurfilms befindet sich in Einklang mit Mark Paul Meyers Abhandlungen zur Ästhetik des frühen non-fiktionalen Amateur- und /-Filmes allgemein.
„[...] we must not forget that the structure and the integrity of the whole film is merely of secondary importance for the aesthetics of the early nonfiction film, as the domain of its aesthetics is the shot or the sequence. This is why the tiniest fragments of nonfiction film also have the potential of being singularly impressive [...]“ (3)
In diesem Sinne entfaltet sich die inszenatorische und dramaturgische Qualität des frühen non-fiktionalen Amateurfilmes zwischen seinen unteilbaren Einheiten, den Einstellungen, maximal erstreckt sich das organisierende Kalkül über eine Szene oder Sequenz. Dieser These folgend, scheint die filmische Dokumentation der beiden grundverschiedenen Anlässe, dem Besuch der Großmutter und dem, einer Automobilmesse, innerhalb eines Filmes wenig verwundernswert. So können die Detailaufnahmen und „künstlerischen“ Aufnahmen im zweiten Segment des Filmes als völlig selbstständige Erprobungen der technischen Mittel gedacht werden. Ein inszenatorischer Bogen, der sich über das gesamte Werk spannen soll, entspringt erst der Lesart des Zuschauers. Vom Operateur selbst ist dieser nicht zwangsläufig vorgesehen.
Gerade aus dem Unvermögen des Operateurs eine völlige Kontrolle über die Inszenierung auszuüben, gehen filmisch dokumentierte Momente des Kontrollverlustes hervor, die in ihrer Authentizität dem Betrachter unweigerlich ins Auge springen.
„These are often fleeting moments that affect you – no more than a look or a gesture from the person on the screen. They glance at your retina and flash by. These are moments which unmistakably bring the spectator face-to-face with a distant past, moments which place him as it were in a time machine, leaving his own here-and-now behind him.” (4)
Meyer bezeichnet dieses Phänomen als Dekonstruktion der Zeit. Der Blick in die Augen einer Person, die unter Umständen bereits seit 40 Jahren tot ist, erzeugt eine Intimität, die gleichzeitig den Zuschauer auf seinen eigenen, unvermeidlichen Tod zurückwirft. Dieser „moment of poignancy“ ist nicht statisch, ereignet sich in der Bewegung, somit zwischen den Bildern. Das „ca-a-été“ ist eine zeitliche Kontextualisierung des filmischen Subjekts und stets im Wandel begriffen, da es in unmittelbarem Zusammenhang mit der fortschreitenden Gegenwart steht.
Gerade in diesem Bezug auf die Bewegung liegt der Unterschied in Meyers Betrachtung, im Gegensatz zu Barthes Konzept von „studium“ und „punctum“ auf welches er seine Ausführungen aufbaut. Barthes beschreibt in seinem Essay „Die helle Kammer“ verschiedene Wirkungsweisen in der Rezeption von Bildern, speziell Fotografien. Während das so genannte „studium“ jenes Element beschreibt, welches ein ursprüngliches, allgemeines Interesse am Bild evoziert, und das Lesen eines Fotos, auf Grund geschichtlicher und kultureller Kontextualisierung ermöglicht, beschreibt das „punctum“ die weitaus weniger exakt fassbare, sinnliche und sehr persönliche Wirkung auf den Betrachter, oft von einem einzigen Detail ausgehend. Barthes nennt es selbst: ”[…] jenes Zufällige an ihr [der Fotografie], das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ (5), ein zufälliger Umstand, der aus dem restlichen Bild hervorspringt und den Betrachter zu einer neuen, persönlicheren Lesart zwingt.
Daraus hervor gehen Meyers „moments of poignancy“ im non-fiktionalen Film. Momente die zwischen Frames und Szenen, Unvorhergesehen von der Inszenierung existieren und deren Kraft gerade ihrer Flüchtigkeit und somit der Bewegung in, als auch zwischen Bildern geschuldet sind. Der vorliegende Film ist gerade durch die experimentelle Hand seines Urhebers, die Kontrollverluste und kurzen, prägnanten Ausbrüche aus dem inszenierten familiären Alltag gespickt mit solchen Momenten, welche ein Interesse über das bloße Zeitgeschichtliche Dokument hinaus anregen, und zur Teilhabe an viel persönlicheren Geschichten einladen.
(1) Chalfen, Richard: “Home Movies as Cultural Documents” In: Thomas, Sari (Hg.): Film/Culture - Explorations of Cinema in its Social Context. Metuchen/Londen: The Scarecrow Press, 1982, S. 130.
(2) Chalfen, S. 130.
(3) Meyer, Mark-Paul: “Moments of Poignancy: the Aesthetics of the Accidental and the Casual in Early Nonfiction Film” In: Hertogs, Daan; de Klerk, Nico (Hg.): Uncharted Territory - Essays on Early Nonfiction Film. Amsterdam: Stichting Nederlands Filmmuseum, 1997, S. 53.
(4) Meyer, S. 51.
(5) Barthes, Roland: „Die helle Kammer – Bemerkung zur Photographie“. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 36.
(Vielen Dank an Hollmann Clemens-Gustav, Krenner Eva, Mohr Max, Paul Daniel Mario und Stadler Tobias für die Bearbeitung dieses Filmdokuments!)
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